Der Karfreitag hat eine eigene Stimmung. Nach dieser beeindruckenden Passion des Johannes, die unser Domchor so einfühlsam zu Gehör gebracht hat, ist unser Herz noch vom Gehörten umfangen. Wir sind ergriffen, aber oft auf eine so kulturell verfeinerte Art, dass uns das Furchtbare und Erschreckende dieses Geschehens nicht zutiefst erreicht. Das Leiden und Sterben Jesu gehört zu dem schon lange Gewussten, ist Teil unseres Alltags, begegnet uns auf Schritt und Tritt.
Vielleicht werden wir schon einmal aufgeschreckt, wenn ein kleines Kind auf eine Darstellung des Gekreuzigten zeigt und aufgewühlt ausruft: „Der Mann blutet ja furchtbar. Der ist ja angenagelt!“
1. Zu den mich am stärksten geprägten Erlebnissen gehört der Tod eines 13- jährigen Mädchens auf einer Wochenendfahrt mit ihrer Heimatpfarrei in eine Jugendherberge. Die größeren Kinder sollten auf die Firmfeier vorbereitet werden. In der Nacht brannte das Haus ab. Alle wurden aus ihren Zimmern in den Garten befreit. Dieses Mädchen aber sah ihren kleineren Bruder nicht. Sie lief ins Haus zurück, um ihn zu retten – und verbrannte. Eine Tragik, die nicht nur die eigene Familie, die begleitende Gemeindereferentin und die dabei gewesenen Kinder bestimmte, sondern die ganze Gemeinde. Sie starb, weil sie ihren kleinen Bruder retten wollte! Die ganze Dramatik dieses Vorgangs erschütterte auch die Unbeteiligsten.
2. Ein anderes Geschehen vom August 1941 im Konzentrationslager Auschwitz ließ die Welt aufhorchen: Der polnische Pater Maximilian Maria Kolbe ging freiwillig für einen zum Hungertod verurteilten Familienvater namens Franz Gajowniczek in den Hungerbunker und starb dort am 14. August 1941. Bei seiner Heiligsprechung 1982 war der Gerettete anwesend. Der freiwillig auf sich genommene schreckliche Hungertod für einen anderen hatte ein neues Gesicht und erreichte die Herzen.
Liebe Schwestern und Brüder,
ein bekannter Philosoph und Psychotherapeut (Graf Dürckheim) berichtete, dass er eine entscheidende Erfahrung gemacht habe, als ihm eines Tages der elfte Spruch des Tao-theking begegnet sei. Dieser heißt sinngemäß:
Dreißig Speichen treffen die Nabe –
aber das Leere zwischen ihnen bewirkt das Wesen des Rades;
aus Ton entstehen Töpfe –
aber das Leere in ihnen bewirkt das Wesen des Topfes;
Mauern mit Fenstern und Türen bilden ein Haus –
aber das Leere in ihnen bewirkt das Wesen des Hauses.
Jesu Erlösungssterben für uns ist wie die von 30 Speichen getroffene Nabe. Er hält alles zusammen und ermöglicht das Leben. An uns liegt es, in seiner Nachfolge die Leere zwischen den Speichen auszufüllen und somit das Rad, den Topf und das Haus ihrem Wesen nach zu füllen. Übrigens: die Mutter des so auf tragische Weise umgekommenen Mädchens hatte aus dem Glauben an das Erlösungssterben Jesu Christi die Kraft, das Lieblingsgebet der Kleinen vor der ganzen Gemeinde vorzutragen. Amen.
(1606/0603)