Heute geschieht so etwas wie die Rückkehr zu den Wurzeln, zum Anfang einer Liebesgeschichte Gottes mit den Menschen, die auch zu unserer ganz persönlichen Liebesgeschichte mit Gott wurde.
Jesus kam, wie es der heilige Lukas in seinem Evangelium berichtet, nach einem vierzigtägigen Aufenthalt in der Wüste, in der ihn der Teufel in Versuchung geführt hatte, gestärkt, ja „erfüllt von der Kraft des Geistes“ (Lk 4,14) auch in seine Heimatstadt Nazareth zurück. Dies hatte sich schnell herumgesprochen. So wundert es nicht, dass er bei seinem Synagogenbesuch am Sabbat viele Menschen aus Nazareth, Verwandte, Freunde und Bekannte, Skeptiker, Zweifler und Gegner wieder traf. Sie alle waren gespannt, was er ihnen zu sagen hatte. Man glaubte ihn ja zu kennen, wusste vermeintlich woher er kam. Wie konnte so einer, Nachbarsjunge von nebenan, Anspruch auf besondere Begabung, Kräfte, Sendung erheben?
Wie selbstverständlich stand Jesus auf, um aus der Schrift vorzulesen. Das war eigentlich einem jeden erwachsenen Juden mit Erlaubnis des Synagogenvorstehers möglich. Als man ihm aber die Schriftrolle reichte, schlug er die Stelle aus dem Propheten Jesaja auf, die wir schon in der ersten Lesung gehört hatten: „Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt.“ (Lk 4,18).
Liebe Mitbrüder, auch wir sind zu Beginn dieser Karwoche – nach fast vierzigtägiger Fastenzeit – in unseren Dom zurückgekehrt, unsere Bistums-Mutterkirche. Auch wir kehren damit gleichsam zu unseren Wurzeln zurück: den Glaubenswurzeln, die unsere Frankenaposteln Kilian, Kolonat und Totnan, durch ihr Lebens- und Blutzeugnis begründet haben, und den Berufungs-, Salbungs- und Sendungswurzeln unserer ganz persönlichen Liebesgeschichte mit Gott. Viele von uns sind in diesem Dom zu Diakonen und Priestern geweiht worden. Welche Erinnerungen verbinden sich bei uns damit? Die große Freude des Anfangs? Die hohen Erwartungen der Berufung? Oder haben wir auch noch die kritischen Stimmen von Familienangehörigen und Nachbarn im Ohr: „Was bildet der sich eigentlich ein? Will der etwas Besseres als wir sein?“
Jesus las in der Synagoge von Nazareth die Jesaja-Stelle der Berufung vor: „Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt.“ Jesus bezieht diese Stelle auf sich. Das dürfen auch wir in dieser Stunde, denn der Gesalbte Gottes hat auch uns gesalbt! So ruht auch auf uns der Geist Gottes. Ist das vermessen zu behaupten?
Jesus liest den Jesaja-Text vor, der in der prophetischen Dimension die Legitimation für den enthält, der wirklich der Gesandte Gottes ist:
„Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe.“ Genau das hat Jesus getan! Die im Anschluss an diese Stelle im Evangelium folgenden Erzählungen von Heilungen, Befreiungen und Berufungen machen deutlich, dass der Herr ganz und gar die vom Propheten prophezeiten Merkmale des von Gott Gesandten erfüllt. So kann Jesus in die gespannte Erwartung der Zuhörer in der Synagoge sagen: „Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt.“ (4,21). Wenn dies auch nicht alle wahrgenommen haben, so ist doch diese historische Stunde in der Synagoge von Nazareth für uns mit einer Initialzündung verbunden. Denn so wie Jesus im Heiligen Geist die Frohe Botschaft umsetzt, dürfen und können auch wir in demselben Geist handeln. Jesu Tun wird zum Modell für uns Christen.
Deshalb ist diese Stunde der Erinnerung an den Anfang zugleich auch für uns eine große Chance, uns als Gesalbte und Gesandte zu befragen: Verkünden wir unermüdlich den Armen die Frohe Botschaft? Lassen wir uns nicht irritieren: Die, die glauben schon alles zu haben und zu wissen, schließen sich selbst aus. Die Adressaten sind die, die ihre Armut vor Gott wenigstens ahnen, die suchen und fragen.
– Verkünden wir den in sich selbst Gefangenen die Befreiung aus der Ausweglosigkeit ihrer eigenen Enge?
– Öffnen wir im Auftrag und in der Gnade Jesu Christi den für das Heilsangebot Gottes blind gewordenen die Augen des Herzens, damit sie Gottes Liebestaten sehen lernen?
– Setzen wir – beispielsweise im Bußsakrament – die Zerschlagenen in Freiheit? Eröffnen wir ihnen in der Kraft Jesu Christi einen neuen Anfang?
– Verkünden wir noch in der ersten Liebe das Gnadenjahr des Herrn?
Liebe Mitbrüder, ich weiß um die große Belastung in der Sie alle stehen: Die leider noch abnehmende Zahl der Priester; die wachsende Mehrbelastung mit weiteren Pfarreien und neu hinzugekommenen Aufgaben; die knapper werdenden Finanzmittel; die wachsenden Ansprüche mit aufreibendem Erklärungszwang und vieles mehr.
Aber es gibt auch viel Erfreuliches: das wachsende Engagement sich aktiv einbringender Laien – vielleicht hat es noch nie so viele ehrenamtlich engagierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gegeben; neu aufbrechendes Fragen nach Gott – auch bei der Jugend; steigende Berufungszahlen und vieles mehr.
Besinnen wir uns hier und heute auf die erste Liebe, die sich uns durch die Salbung im Sakramentenempfang von Taufe, Firmung und Priesterweihe unauslöschlich eingeprägt hat. Dadurch ist Christus immer der Ersthandelnde. Er wirkt in uns und durch uns. Das, was wir durch die Weihe in seiner Sendung tun können, übersteigt immer das, was wir selbst zu geben vermögen. Darin macht sich für uns beglückend das Wunder unserer leeren Hände erfahrbar, das Georges Bernanos in seinem berühmten Roman „Tagebuch eines Landpfarrers“ so treffend geschildert hat. An der Totenbahre einer Gräfin, die erst im Angesicht des Todes zum Glauben an Gott fand, stammelt sinngemäß der Pfarrer, der sich unermüdlich – aber scheinbar aussichtslos – um die Bekehrung dieser Frau bemüht hatte: „O Wunder meiner leeren Hände, das ich etwas zu geben vermochte, was ich selbst nicht besitze.“ – Er besaß tiefen Glauben, vermochte es aber nicht, ihn zu vermitteln – das allein vermag nur Gott. Die große Einsicht des Pfarrers: Alles ist Gnade. Wer von uns diese Erfahrung immer wieder beglückend machen kann, wächst im Vertrauen auf Gottes Wirken auch heute, auch durch uns schwache Menschen. Amen.
(1506/0584)